Blog #41, Marlene (Mai 2025, Urugay)
Manchmal nehme ich Abstand, um in Ruhe nachzudenken.
Und manchmal nehme ich Abstand, weil ich in Ruhe nachgedacht habe.
Autor unbekannt
In Uruguay leben rund 3,4 Millionen Menschen – und etwa 12 Millionen Rinder. Die Hälfte der Bevölkerung konzentriert sich auf Montevideo. Gemessen an seiner Fläche, die viermal so gross ist wie jene der Schweiz, ist das Land nur dünn besiedelt. Die Menschen wirken stolz auf ihr Land, zurückhaltend, gebildet und politisch interessiert. Eine breite Mittelschicht prägt das gesellschaftliche Bild, extreme Armut ist selten. Uruguay gilt als eines der sichersten und stabilsten Länder Südamerikas.
Es ist zudem das einzige säkulare Land des Kontinents. Religiöse Feiertage sucht man im Kalender vergeblich: Weihnachten heisst hier «Día de la Familia», Ostern wird als «Semana de Turismo» bezeichnet. Die Trennung von Kirche und Staat ist seit 1917 konsequent umgesetzt. Der Glaube ist Privatsache – viele Kirchen stehen leer oder dienen anderen Zwecken, etwa als Anlaufstellen für Drogenabhängige. Eine gute Sache, so denken wir.
Uruguay ist eine demokratische Republik mit Präsidialsystem – ein Modell, das der schweizerischen Staatsform nicht unähnlich ist und sich teilweise an ihr orientiert. Es gibt eine öffentliche Gesundheitsversorgung, kostenlose Bildung und ein gut ausgebautes Sozialsystem. Seit 2020 ist Luis Lacalle Pou Präsident des Landes. Mehr Informationen zu Uruguay findet ihr im SRF-Podcast ==> Link
Ein absolutes Highlight ist die «Noche de la Nostalgia» – die Nacht der Sehnsucht. Jedes Jahr am 24. August verwandelt sich das ganze Land in eine einzige Tanzfläche. Es ist ein offizieller Feiertag, der ganz im Zeichen musikalischer Erinnerungen steht. Von Elvis über Queen bis zu Donna Summer – Hauptsache englischsprachig und bekannt. Leider sind wir im August bereits anderweitig unterwegs, denn dieses Fest würden wir gerne einmal miterleben. Passend dazu folgt am nächsten Tag der Unabhängigkeitstag – viele Menschen haben frei und können gemütlich ausschlafen. Während in Europa Silvester oder Karneval gefeiert wird, tanzt Uruguay zur Erinnerung an die «gute alte Zeit».
Kein Wunder also, dass die Uruguayerinnen und Uruguayer stolz auf ihr Land sind – sei es wegen der Sicherheit, dem Bildungswesen, dem öffentlichen Leben oder dem spürbaren sozialen Zusammenhalt. Alles wirkt bemerkenswert sympathisch. Falls sich die Situation in Europa weiter verschlechtern sollte, ist Uruguay ein zu prüfender Zufluchtsort.
Wir verlassen Argentinien stressfrei wie gewohnt – und sind erneut positiv überrascht, wie zügig der Ausreise- und Einreiseprozess verläuft. Eigentlich lohnt es sich kaum noch, darüber zu berichten.
In Uruguay entdecken wir traumhafte Stellplätze am Río Uruguay und nutzen das herrliche Wetter, um die defekten Solarpanels vom Dach zu entfernen. Eine mühsame und kostspielige Angelegenheit, die hoffentlich bald ein Ende findet. Autarkes Reisen ist nun nicht mehr möglich – wir müssen regelmässig fahren, um die Batterien zu laden.
Nach zwei entspannten und sonnigen Tagen zum Einstieg in dieses neue Land geht es gezwungenermassen weiter. In Colonia del Sacramento erwartet uns gleich der erste kulturelle Leckerbissen Uruguays.
Die Altstadt von Colonia del Sacramento zählt zum UNESCO-Weltkulturerbe und verzaubert mit ihrem kolonialen Charme. Kopfsteinpflasterstrassen, historische Gebäude und eine gut erhaltene Ruine erzählen von einer bewegten Vergangenheit – man möchte meinen, die alten Steine könnten Geschichten erzählen.
Die Atmosphäre ist ruhig und romantisch, und wir schlendern in alle Richtungen durch die Gassen. Überall locken hübsche, farbenfrohe Restaurants mit einladendem Ambiente – die Wahl fällt uns nicht leicht. Schliesslich geniessen wir ein kühles Bier auf der Piazza, im Schatten alter Ahornbäume. Es gefällt uns hier ausserordentlich gut, und wir lassen den warmen Abend genussvoll in der Altstadt ausklingen.
Nach einer erholsamen Nacht brechen wir noch einmal auf – wir haben gestern einen kleinen, perfekten Früchte- und Gemüseladen entdeckt. Mit prall gefüllten Rucksäcken kehren wir zurück und entscheiden uns, einige Kilometer weiterzuziehen. Unser nächstes Ziel: eine Schweizer Kolonie.
Nueva Helvecia – auch bekannt als Colonia Suiza – entpuppt sich als eher nüchterne und unspektakuläre Stadt/Dorf. Gegründet wurde sie 1862 von europäischen Auswanderern, vorwiegend aus der Schweiz. Die Siedler brachten landwirtschaftliches Wissen mit und gründeten eine blühende Gemeinschaft. Ihre Fluchtgründe: Armut, Hungersnöte und religiöse Konflikte/Kriege.
Während ich diese Zeilen schreibe, macht sich ein bedrückendes Gefühl breit. Es wird mir einmal mehr bewusst, wie sich die Geschichte ständig wiederholt. Wir Menschen – scheinbar die intelligenteste Spezies auf diesem Planeten – bleiben oft unbelehrbar.
Wir spazieren zum Plaza de los Fundadores, dem Herzstück der Stadt. Überall finden wir die Kantonswappen, an Plakaten, an Hauswänden, in den Geschäften und auf dem Hauptplatz. Ein paar Fotos sind rasch gemacht. Besonders beeindruckt mich, wie gut hier die Integration in die südamerikanische Kultur gelungen ist – ein echtes Beispiel für gelungenes Zusammenleben.
In der «Chocolatería Tante Emma» lassen wir uns mit hausgemachtem Schoggichueche verwöhnen – begleitet von Geschichten des stolzen Besitzers. Er zeigt uns alte Fotos seiner Vorfahren und gibt Einblick in die Vergangenheit.
Von hier aus, liebe Leserinnen und Leser, liegt eure Heimat rund 11'120 Kilometer entfernt. Ein netter Zwischenstopp – kein Muss, aber durchaus ein lohnenswerter Abstecher.
Die Bodega Bouza, ein familiengeführtes Weingut nur einen Steinwurf vom Zentrum Montevideos entfernt, gehört zu den renommiertesten des Landes und wurde bereits mehrfach ausgezeichnet. Kaum angekommen, dürfen wir unser Fahrzeug an der Stromquelle anschliessen – ein willkommener Bonus.
Nach einem Spaziergang durch das liebevoll gepflegte Anwesen, inklusive einer Ausstellung alter Fahrzeuge, geht es zur Weinverkostung, die wir mit einer dreiköpfigen Gruppe aus Australien teilen. Wie schön für Dani – so muss er nicht alleine geniessen. Offenbar ist der Wein tatsächlich hervorragend, und die Häppchen harmonieren perfekt dazu.
Ich begnüge mich mit dem Duft der vergorenen Trauben und teile die wenigen vegetarischen Köstlichkeiten mit Dani. Was bin ich doch für ein Langweiler 😊.
Die Nacht auf dem Parkplatz der Bodega verläuft weniger ruhig als erhofft – in regelmässigen Abständen heult ein Alarm durch die Dunkelheit. Nun ja, es ist, wie es ist.
Kaum angekommen, zieht Dani schon wieder los, um fehlende Elektronikteile zu besorgen – er tüftelt weiterhin an seinem Raspberry Pi Projekt herum. Unser Kühlschrank ist, selbst auf der kleinsten Stufe, viel zu kalt. Wir haben ständig Eis an der Rückwand. Dani baut dazu einen neues Temperaturregelsystem. Zudem soll das Garmin inReach, welches unsere Route aufzeichnet, durch eine Eigenentwicklung ersetzt werden – mal schauen…
Gemeinsam durchstöbern wir gefühlt den tausendsten Elektronikladen. Für die Nacht haben wir uns erneut für einen «Campingplatz» am Meer entschieden. Der lebhafte, freundliche Christian begrüsst uns herzlich. Wir dürfen alleine auf einer Wiese parken, Strom gibt’s obendrauf. Auch Wasser wäre verfügbar, doch der starke Chlorgeschmack lässt uns lieber nach einer anderen Quelle suchen.
Der weisse Sandstrand will nicht so recht zum Verweilen einladen – das Meer ist braun, rau, und selbst ich widerstehe den Fluten. Erst weiter nördlich soll das Wasser klar sein, wenn sich die bräunliche Brühe des Río de la Plata nicht mehr mit dem Meerwasser vermischt.
Frühmorgens radeln wir zur Busstation und fahren ins Herz der Stadt. Unsere Klappvelos stehen irgendwie im Bus – ziemlich im Weg –, aber niemand nimmt daran Anstoss. In Zürich gäbe es für so etwas böse Blicke und lautes Gemurre. Montevideo gefällt uns auf Anhieb – wie eine kleine Schwester von Buenos Aires. Rund 1,4 Millionen Menschen leben hier, damit ist sie die kleinste Hauptstadt Lateinamerikas. Alles wirkt entspannter, leiser und gemächlicher als in anderen Metropolen.
Wir treten viele Kilometer entlang der Rambla, der Uferpromenade – sie ist die Lebensader der Stadt. Jogger, Mate-trinkende Spaziergänger und verliebte Paare kreuzen unseren Weg. Wie schon in Argentinien trägt hier jede und jeder die Thermoskanne mit sich – ob im Park, auf der Bank oder durch die Gassen.
In der Altstadt treffen koloniale Architektur, Street Art und gut besuchte Strassencafés aufeinander und schaffen ein farbenfrohes, lebendiges Stadtbild. In den Parks jedoch beobachten wir auch das andere Gesicht der Stadt: junge Menschen, verwahrlost, süchtig, mit leeren, schmerzverzerrten Gesichtern. Sie werden in umgenutzten Kirchen betreut und erhalten dort dringend nötige Hilfe.
Die alten Markthallen – heute Hotspots für Asados, Wein und Live-Musik – sind am Vormittag noch fast leer. Kaum ein Tourist verirrt sich nach Montevideo – zu gross ist die Konkurrenz durch Rio de Janeiro oder Buenos Aires.
Wir schieben unsere «Faltbikes» durch zahlreiche belebte Floh- und Bauernmärkte. Die Stimmung erinnert uns an Zürcher Markttage. So viele Köstlichkeiten, dass uns bereits beim Anblick das Wasser im Mund zusammenläuft. Die Preise liegen unter dem Grosshandelsniveau – kein Wunder also, dass der Andrang riesig ist.
Nach sechs Stunden im Sattel melden sich unsere Hinterteile. Wir peilen die nächste Busstation an. Im Bus stehen wir wieder mitten im Weg – doch auch hier bleibt alles gelassen. Irgendwann merken wir, dass wir zwar im richtigen Bus sitzen, dieser jedoch eine abweichende Route fährt. Spezielle Fahrten sind gekennzeichnet – wenn man es denn wüsste. So kommt es, dass wir nochmals ein gutes Stück bis zum Camping radeln müssen.
Wir geniessen es sehr, wieder fast täglich draussen essen zu können, und sitzen bis zum Sonnenuntergang vor unserem rollenden Zuhause. Drinnen machen wir es uns gerade gemütlich, als ein Knall ertönt. Verblüfft sehen wir uns an – Wasser läuft aus der Schublade auf den Boden. Ein kleiner Wasserfall im Camper – speziell und ganz und gar ungewollt. Schnell schalten wir die Wasserpumpe aus und gehen in die Knie. Eine Stunde lang wischen wir Wasser auf. Wir nehmen es gelassen – alles andere bringt nichts. Zum Glück waren wir zu Hause, sonst hätten sich rund 100 Liter Wasser irgendwo in jede Ritze verteilt.
Am Sonntag geht’s erneut in einen Fachhandel – schön, dass hier alle Geschäfte sieben Tage die Woche geöffnet haben. Wir werden rasch fündig und kaufen einen passenden Wasserhahn. Zurück im Camper montiert mein «Handyman» das neue Modell, und ich kann wieder ungestört in der Küche werkeln. Im Moment scheint ständig etwas kaputtzugehen – sei es austretendes Motorenöl, defektes Licht oder sonst irgendein Problem.
Heute verlassen wir die Stadt und machen uns auf den Weg zur Werkstatt. Ein Termin steht an – die Solarpanels und allerlei Kleinigkeiten müssen repariert werden. Die Firma gehört drei Hamburgern, die einst mit ihren Eltern nach Uruguay ausgewandert sind. Sie geniessen eine Art Monopolstellung – zumindest im Land, wenn nicht gar auf dem gesamten Kontinent. Hier werden rollende Schätze repariert und neue Expeditionsfahrzeuge gebaut.
Wir stellen uns mental auf einen Aufenthalt von mindestens zwei Wochen ein. Diese Zeilen schreibe ich am dritten Tag in der Werkstatt. Die ersten Tage sind geprägt von Putzen, Waschen, Aufräumen – und es tut gut, alles mal wieder gründlich zu reinigen. Dani werkelt wie immer irgendwo herum und kommt mit ölverschmierten Händen herein … und hinterlässt Spuren auf den frisch geputzten Schränken. Aber auch dass– nichts ist für die Ewigkeit.
Wie erwartet zieht sich alles in die Länge. Leider müssen wir unsere Lithiumbatterien bereits nach sechs Jahren ersetzen. Sie kommen per Luftfracht aus den USA, und das dauert – wir werden also ohnehin noch eine Weile in Uruguay verweilen. Auch zum Thema Batterien könnten wir ganze Seiten füllen, aber wie schon gesagt: Diese Plattform soll kein Ort zum Klagen sein.
Gerade wurde unser Dach abgeschliffen. Die Solarpanels hatten wir im Vorfeld bereits entfernt. Der Schaden an der GFK-Platte auf dem Dach ist grösser als vermutet – um das Eindringen von Wasser zu verhindern, wird nun eine zusätzlich GFK-Platte mit Epoxidharz verklebt, bemalt, und darauf kommen die neuen Panels. Timo, einer der Werkstattbesitzer, lege ich eindringlich ans Herz, dass diese vierte Variante nun endlich funktionieren muss – sonst endet Dani noch in der «Spinnwinde». Ich fürchte, er dreht sonst endgültig durch. Jeder dieser Versuche kostet uns eine ordentliche Stange Geld.
Die Batterien müssen ebenfalls ersetzt werden. Da sie damals vom Boxenbauer falsch konfiguriert wurden, sind sie schneller gealtert – und wir dürfen nun die Konsequenzen tragen. Auch dieses Kapitel gehört zur Reise, aber es ist eine andere Geschichte, und dieser Blog ist nicht der Ort, um über andere zu urteilen. Wer mehr über unsere Batterie-Odyssee erfahren möchte, darf uns gerne schreiben – vor allem jene unter euch, die gerade selbst einen Camper ausbauen.
Die Sonne scheint, und täglich treffen neue Reisende ein. Viele stellen hier ihr Fahrzeug ab, um für einige Monate in die Heimat zu reisen. In Uruguay darf man sein Fahrzeug zwölf Monate stehen lassen – ein grosses Privileg und das einzige Land in Südamerika mit diesen grosszügigen Regeln.
Nach Asien sind wir es nicht gewohnt, so viele Overlander um uns zu haben. Die ständigen Begegnungen ermüden mich manchmal, und ich ziehe mich gern zurück, um einfach vor mich hin zu werkeln. Am Wochenende fahren wir kurz an die Küste – ein Tapetenwechsel tut gut. Die Tage vergehen wie im Flug, und wir haben das Glück, mittlerweile eine richtig tolle Runde beisammen zu haben.
Unerwartet treffen wir hier Claudia und Stefan sowie Demi und Rafie wieder – die Abende verbringen wir in anregender Gesellschaft.
Nach beinahe zwei Wochen auf dem zur Werkstatt gehörenden Campingplatz sind die Arbeiten der 1. Phase abgeschlossen. Wir beschliessen, die Wartezeit auf die Batterien sinnvoll zu nutzen – und Uruguay weiter zu entdecken.
Weniger erfreulich sind die Nachrichten aus der Ferne: Zwischen Pakistan und Indien eskaliert die Lage erneut. Orte wie Kaschmir und Lahore, die wir selbst besucht haben, stehen unter Beschuss. Es ist unendlich traurig. Wir hoffen inständig, dass die Verantwortlichen zur Vernunft kommen. Unseren Bekannten auf beiden Seiten geht es bislang (noch) gut.
Die neuen Solarpanels funktionieren – unsere gewohnte Unabhängigkeit ist zurück! Entlang der Küste entdecken wir traumhafte Plätze an langen, einsamen Stränden mit feinem, weissem Sand. In Punta del Este legen wir einen Einkaufsstopp ein, bevor wir in Punta Ballena das Casa Pueblo besuchen – eine aussergewöhnliche Hotelanlage.
Das weisse, fliessende Gebäude ohne Ecken wirkt wie eine Mischung aus Skulptur und Architektur. Erschaffen wurde es vom lokalen Künstler, Architekten und Schriftsteller Carlos Páez Vilaró – ein Weltenbummler und Kultfigur Uruguays. Sein Sohn Carlos Miguel war einer der 16 Überlebenden des berühmten Flugzeugabsturzes in den Anden, bekannt aus dem Film Alive. Vilaró reiste sofort zur Unglücksstelle, selbst als die offizielle Suche längst eingestellt worden war. Unerschütterlich glaubte er an das Überleben seines Sohnes – und er behielt recht: Nach 72 Tagen Überlebenskampf wurde sein Sohn lebend geborgen.
Die geschwungenen Formen und das strahlende Weiss erinnern uns an Griechenland – und auch an Gaudí, dessen Kunstwerke wir aus Barcelona kennen.
Am Laguna José Ignacio dürfen wir direkt am Wasser stehen – mit privatem Badesteg inklusive. Die Freiheit scheint grenzenlos, die Menschen sind offen und zuvorkommend, und wir fühlen uns hier rundum wohl.
Nach einem ausgiebigen Brunch und telefonisch übermittelten Muttertags-Grüssen, radeln wir ins Städtchen. Hoppla – hier riecht es förmlich nach Geld. Grossartige Villen reihen sich entlang der Küste, und architektonisch gefallen uns viele davon ausserordentlich gut.
Kurz entschlossen schauen wir bei einer Immobilienagentur vorbei, die heute Sonntag geöffnet hat. Dort treffen wir auf eine sympathische junge Frau mit Genfer Wurzeln, die in Argentinien aufgewachsen ist.
Die Preise für eine Villa mit Meerblick beginnen bei rund 2,5 Millionen US-Dollar – nach oben scheint alles offen. Nein, wir wollen uns hier nicht niederlassen, es hat uns einfach interessiert.
Falls ihr aber mit dem Gedanken spielt, auszuwandern – Uruguay wäre tatsächlich eine Überlegung wert. Das Land bietet viele Vorzüge … gerade auch im Vergleich zur aktuellen Lage in der Heimat. Was wir allerdings nicht wissen.
Nach einer wenig entspannten Joggingrunde entlang der Hauptstrasse fahren wir weiter nordwärts. Immer wieder steigt uns intensiver Hanfduft in die Nase – manchmal haben wir das Gefühl, wir seien schon vom Vorbeifahren ein wenig benebelt.
Meine Recherchen ergeben: Uruguay ist das erste Land der Welt, das den Cannabiskonsum vollständig legalisiert hat. Erwachsene dürfen bis zu sechs Pflanzen pro Person zuhause anbauen. Für uns als Reisende bedeutet das konkret, dass auch wir eine kleine Menge zum Eigengebrauch mitführen dürften.
Eigentlich schade, dass wir nicht kiffen – ihr kennt ja die Geschichte aus Nepal. Im öffentlichen Raum sehen wir trotzdem kaum jemanden mit einem Joint – das bleibt Privatsache. Es genügt offenbar, genügsam am Matetee zu nuckeln. Wir haben ihn mittlerweile auch probiert (einmal) – mein Geschmack war’s nicht. Er erinnert mich irgendwie an aufgegossenes Hamstersägemehl – warum mir gerade dieser Vergleich in den Sinn kommt, weiss ich selbst nicht.
Die kleine, charmante Siedlung an der Flussmündung – lädt zum Verweilen ein. Der Gegensatz zum gestrigen Tag könnte nicht grösser sein. Kleine Häuschen stehen verstreut in den Dünen, viele ohne Strom- oder Wasseranschluss. Der Ort ist bekannt für seine alternative, künstlerische Gemeinschaft – und spricht mich wesentlich mehr an als die luxuriösen Villen von gestern.
Ich mag diese Hippieszene sehr – und vermutlich passe ich heute auch besser hierher. Das war jedoch nicht immer so. Reisen verändert. Unsere Sichtweisen, Empfindungen und das, was wir unter Glück verstehen, haben sich in den letzten Jahren grundlegend verschoben.
Wie so oft finden wir rasch ein wunderbares Plätzchen. Der Weg dorthin ist zwar so eng, dass unsere Box wohl ein paar zusätzliche Kratzer abbekommt – aber damit gehen wir um wie mit Falten im Gesicht: Jeder Kratzer erzählt eine kleine Episode aus unserem Reisealltag.
Diese kleine Stadt ist eine charmante Mischung aus Hippie-Atmosphäre und Hipster-Flair – Menschen, die sich hier vor nicht allzu langer Zeit ihren Traum vom Eigenheim erfüllt haben. Uns gefällt diese Vielfalt, und hätten wir den Wunsch nach einem festen Wohnsitz, wäre Punta del Diablo bestimmt ein wunderbarer Ort zum Leben: entspannt, bunt und naturnah.
Auch in der Nebensaison hat ein kleines Lokal direkt am Meer geöffnet. In aller Ruhe beobachten wir von der Terrasse auf die Surfer – bei ihren mehr oder weniger gelungenen Versuchen, eine Welle zu erwischen.
Zurück beim Camper geniessen wir die umwerfende Aussicht von unserem «Garten» aufs Meer hinaus. Die Luft- und Wassertemperaturen sind so angenehm, dass wir uns noch in die Wellen stürzen und planschen – einfach, weil es sich gut anfühlt.
Die feinen, weissen Sandstrände sind blitzsauber, wild, menschenleer – und einfach traumhaft schön.
Das Leben, diese ewige Achterbahn, fährt gerade kleine Loops – unsere Gelassenheit ist erstaunlich gross. Ich kenne mich selbst kaum wieder. Unsere inneren Batterien sind voll aufgeladen, und die Energie sprudelt in alle Richtungen.
Wir fahren gerade auf unbefestigten Pisten ins Landesinnere – vorbei an scheinbar endlosen Wäldern. Doch schnell wird klar: Was wie Wald aussieht, sind in Wahrheit akribisch gepflanzte Baumreihen – Monokulturen.
Ein kurzer Halt bestätigt unseren Verdacht: Wir stehen am Rand riesiger Eukalyptusplantagen. Sie dienen fast ausschliesslich der Zellstoffproduktion für den Export und werden von grossen, meist ausländischen Konzernen betrieben. Eukalyptusbäume wachsen schnell, benötigen wenig Pflege und liefern ideale Rohstoffe für die Papierindustrie. Ein wirtschaftlicher Selbstläufer – ökologisch jedoch fragwürdig.
Diese Wälder wirken leblos. Sie verbrauchen Unmengen an Wasser, laugen den Boden aus und lassen kaum anderes Leben zu. Wo heute diese monotone Pflanzenwelt steht, wären wir vor einigen Jahren wohl durch Weideland, Buschsavannen oder Mischwälder gefahren.
Wie die Uruguayer dem Verlust – und vor allem dem Verkauf – ihres Landes gegenüberstehen, wissen wir nicht. Aber eines ist sicher: Auch die Schweiz verkauft Hotels, Einkaufspassagen, Spitäler und sogar Wasserquellen an ausländische Investoren …
Unsere Route führt uns in die sanften Hügel von Villa Serrana – ein Ort, so klein, dass man auf der Karte fast eine Lupe braucht, um ihn zu finden. Wir haben ihn ausgesucht in der Hoffnung, hier wandern zu können.
Das verschlafene «Bergdorf» mit seinen Schotterstrassen, den aus Stein gebauten Häusern und den gelassenen, ruhigen Menschen wirkt wie aus der Zeit gefallen. Nur die Preise im hübschen kleinen Café überraschen uns – und zwar unangenehm. So macht Einkehren wenig Freude, und wir merken einmal mehr: Am schönsten ist es meistens in unserem eigenen «Garten».
Am nächsten Morgen regnet es. Doch wir warten geduldig – und clevererweise – auf die Sonne, die sich tatsächlich zeigt. Unser Marsch durch die Hügellandschaft beginnt (von Wanderung zu sprechen, wäre übertrieben). Wir klettern unter Zäunen hindurch und umgehen geschickt die zahlreichen matschigen Stellen. Beim «Baño de India» tauche ich kurz ins Naturbecken ein und geniesse ein wohltuendes Bad.
Zurück beim Camper machen wir es uns gemütlich und schauen einen Eishockey-Match – die Weltmeisterschaft findet gerade in Dänemark und Schweden statt.
Via Minas, einer weiteren Provinzstadt mit allem, was man braucht – ausser Hektik –, setzen wir unsere Reise fort. Eine Plaza, eine Panadería und ein paar freundliche Hände, die uns zuwinken – mehr braucht es manchmal nicht. Wir füllen unsere Vorräte auf und ziehen uns in die nahen Hügel zurück.
Bei strahlendem Sonnenschein steht heute der Cerro Artigas auf dem Programm. Eine kleine, aber feine Wanderung. Nach einem ausgiebigen Frühstück geht es weiter Richtung San Gregorio de Polanco.
Nur etwa 300 Kilometer liegen vor uns – doch weil wir fast ausschliesslich auf engen Schotterstrassen unterwegs sind, legen wir unterwegs einen Zwischenstopp ein. Irgendwo inmitten von Pferden, Rindern und kuscheligen Schafen richten wir uns für die Nacht ein. Immer wieder öffne und schliesse ich Gatter und hoffe dabei, dass mir kein Stier zu nahekommt. Wenn sich so ein Koloss auf meinen Fuss stellt – oh Dios mío, das wäre gar nicht lustig.
Am Morgen werden wir freundlich von reitenden Gauchos geweckt. Sie wollen wissen, wer auf ihrem Grundstück übernachtet. Nach einem netten Gespräch – sie frisch, wach und mit roten Backen, wir zerzaust mit kleinen Augen – galoppieren sie weiter.
Es fasziniert uns, wie viele Bauern – meist Grossgrundbesitzer – hier noch zu Pferd unterwegs sind. Auf dem Kopf tragen sie ihr schief sitzendes «Boina», ein Baskenmützli, dass weit mehr als nur eine Kopfbedeckung ist – es ist ein kulturelles Statement.
Wir erreichen San Gregorio de Polanco rechtzeitig, um mit unseren Velos noch einen ausgiebigen Rundgang zu unternehmen. Das charmante Dorf liegt am Ufer des Río Negro und wurde durch den Bau des Staudamms im Jahr 1945 bekannter – dieser schuf den künstlichen See, an dem wir campieren.
Ein Ort voller Charme: Bemalte Hauswände erzählen Geschichten, die Menschen sitzen Mate-schlürfend vor ihren Türen, und Hunde tollen um unsere Beine. Dani, wie immer, kann nicht widerstehen und spielt mit den Vierbeinern – bis einer der grossen Kerle plötzlich zubeisst.
Die Hose bleibt heil, doch eine Wunde ist sichtbar. Dani winkt ab – kein Wort von Tetanus oder Tollwutimpfung will er hören. Ich lasse es gut sein. «Lieber ein Biss am Popöchen als am Hödchen», meine ich augenzwinkernd – als Frau und Poetin 😊.
Wir bleiben länger als geplant – der See ist schuld. Und die Ruhe. Und der gegrillte Käse. Und die freundlichen, entspannten Menschen.
Die Tage verbringen wir mit Baden, Eishockeyschauen, Lesen und Vogelbeobachtungen – auf der Península Dorada, diesem herrlichen Zipfel Erde. Einmal mehr.
Die neuen Batterien sind eingebaut, wir haben uns gegenseitig die Haare geschnitten, die Wäsche duftet wieder frisch, und unsere Box glänzt im Sonnenlicht – es ist so weit: Wir brechen auf Richtung Brasilien.
Grenzübergang
Einmal tief durchatmen – und schon liegt die uruguayische Flagge im Rückspiegel. Die Ausreise verläuft freundlich und unkompliziert. Danke, Uruguay – du hast uns überrascht.
– Uruguay war das erste Land der Welt, das die gleichgeschlechtliche Ehe legalisierte.
– Marihuana ist vollständig legalisiert, der Verkauf wird staatlich kontrolliert.
– Schwangerschaftsabbrüche sind bis zur 12. Woche legal.
– Die Alphabetisierungsrate liegt bei über 98 %.
– Jedes Schulkind erhält einen eigenen Laptop.
– Bücher sind Teil des Alltags – selbst an Bushaltestellen stehen kleine Bibliotheken.
Die Uruguayer nehmen sich selbst gerne mit Humor. So erzählen sie augenzwinkernd, dass ihr Land der perfekte Ort für eine Apokalypse sei – denn hier käme sie garantiert mit Jahren Verspätung an.
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